„Im Opferteich ist es kuschelig warm – wie in einer Badewanne“

Die letzten Tage waren geprägt von ständigen Termin- und Prioritätenverschiebungen und Mara spürte, dass Normalität nicht mehr das ist, was es einmal war. Selbst das „neue Normal“, welches sie sich in den letzten beiden Jahren aufgebaut hatte, kam durch die nicht mögliche Berechenbarkeit erneut zum Erliegen. Ihre Kunden waren entweder krank, in Quarantäne oder mussten die Arbeit derer auffangen, die nicht da waren. Arbeit war überall genug. So verbrachte sie pro Tag ein paar Stunden Termine hin- und herzuschieben, aber sie kam in ihren Projekten keinen Schritt weiter. Sie war genervt.

An manchen Tagen kommen einem dann noch die hohen Erwartungen an sich selbst in die Quere oder andere lassen ihrem Unmut oder ihrer Wut freien Lauf – über zu viel Arbeit, die Unsicherheiten, die neuen Vorgaben ihres Chefs etc.- zu beklagen gibt es ja genug. Wenn wir genau hinschauen, gibt es natürlich auch genug, wofür wir dankbar sein können. Aber an diesem Abend konnte und wollte Mara das nicht mehr sehen. Irgendwann ist es doch auch genug!

Als sie gerade ein bisschen am Jammern war, sagte ihr Freund: „Im Opferteich ist es kuschlig warm“.
Ja, stimmt. Das Bad im Opferteich tat ihr gut. Selbstmitleid tut manchmal gut. Was wollte sie? Mitgefühl? Beschützt werden? Sich angenommen wissen, auch wenn sie gerade keine Lust auf Selbstverantwortung hatte – zumindest nicht in diesem Moment? Aber dieser Spruch durchbrach ihre Gedanken. Ja, stimmt, es fühlt sich warm an – denn da muss man nichts tun und nicht handeln. Man kann endlich mal allen anderen und den Umständen die Schuld geben. Das tat gut und war so befreiend. Aber klar, besser macht es die Sache nicht. Für einen Abend kann es sehr guttun und dann macht es Sinn zu überlegen, ob man weiter darin schwimmen oder aussteigen möchte.

Wir können oft nicht beeinflussen, was passiert, aber wir können beeinflussen, wie wir darauf reagieren. Wie schön, wenn jemand am Opferteich steht, Dir ein Handtuch ausbreitet, in dem Du Dich trocken rubbeln kannst, um dann zu überlegen, was die richtige Strategie für Dich ist. Vielleicht fühlt es sich besser an, wenn jemand mit in den Teich springt und mit Dir schwimmt – an Deiner Seite und voller Verständnis, bis ihr beide alles so richtig blöd findet (oder zumindest die anderen und die Umstände). Aber das bringt Dich keinen Schritt weiter.

Selbstverantwortung heißt, sich nicht weg zu ducken, sondern ins Handeln zu kommen, Fragen zu stellen, größere Zusammenhänge zu sehen und Entscheidungen zu treffen. Wenn wir erst einmal akzeptieren, was wir ändern können und was nicht, dann können wir mit dieser Erkenntnis auch Wege finden. Mit dem Willen etwas Positives aus der Situation zu machen, kommt auch die Leidenschaft und die Kraft für das eigene Tun zurück. Wenn wir aus dem Opferteich aussteigen, dann kommen wir in die Haltung „ich mache alles, was mir möglich und was notwendig ist“. Dann lassen wir uns nicht von existierenden Strukturen und Erlebnissen ausbremsen, sondern versuchen neue Wege zu finden. Dann wollen wir Dinge zum Besseren verändern und sind proaktiv. Im Opferteich können wir vielleicht die Meisterschaft der Ausreden gewinnen und ein Buch darüber schreiben, warum etwas nicht geht, aber wir können nicht kreativ und zielorientiert denken. Wer aus dem Opferteich aussteigt überschreitet die Grenze von Machtlosigkeit zur Selbstverantwortung. Selbstverantwortung kann man nur leider oftmals nicht so einfach ein- oder ausschalten.

Selbstverantwortung ist die Bereitschaft und die Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen. Daher ist es sinnvoll, sich die Frage zu stellen: Was passiert, wenn ich den Umständen die Schuld gebe und in meiner Haltung verharre? Was ist mein Gewinn dieser Haltung? Und welchen Preis zahle ich für diese Haltung? Was befürchte ich, wenn ich ins Handeln komme? Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Befürchtung eintritt? Wie könnte es im besten Fall ausgehen? Was könnte ich heute bereits dafür tun? Vielleicht ist der Umweg über den Opferteich des Selbstmitleids gar nicht nötig, wenn wir in das Selbstmitgefühl gehen.

Wo ist der Unterschied?
Beim Selbstmitleid konzentrieren wir uns auf unser Leid. Wenn wir länger im Selbstmitleid baden, dann verschließen wir uns vor anderen Optionen und sehen auch die positiven Aspekte nicht mehr. Wenn wir versuchen, gegen die unangenehmen Emotionen und den Schmerz anzukämpfen, dann wird es zur Falle. Wir bleiben darin haften. Doch Selbstmitgefühl hilft uns, Raum zu schaffen, für unsere Gefühle, Bedürfnisse und unsere Ziele – und uns selbst anzunehmen. Wenn wir vor schmerzhaften Gefühlen nicht davonlaufen, sondern sie anerkennen und zu uns selbst so einfühlsam sind, wie zu unseren besten Freunden, dann bleiben wir mit liebevoller Aufmerksamkeit bei uns und nicht bei den Anderen und den Umständen. Dadurch gewinnen wir Erkenntnisse, wie wir gut für uns sorgen können und es ist einfacher, die Dinge in eine größere Perspektive zu rücken und mit Selbstempathie neue Wege zu finden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und unseren Zielen wieder ein Stück näher zu kommen.

Ständige Krisen, negative Nachrichten und Informationen und bislang gesicherte Annahmen, die sich über Nacht als falsch herausstellen, geben uns das Gefühl, immer auf alles vorbereitet sein zu müssen, um das Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Das ist weder praktisch noch mental möglich, immer auf alles vorbereitet zu sein. Damit überfordern wir uns nur selbst. Sicherlich macht es Sinn, dass wir absehbare Dinge vermeiden, doch genauso wichtig ist es, dass wir mit ungeplanten Szenarien und Perspektiven umgehen können, uns mit Selbstmitgefühl begegnen, persönliche Muster erkennen und mit Kreativität und Wachheit neue Wege finden.

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